Eine tägliche Yogapraxis soll Wunder wirken. Berichte darüber habe ich zuweilen gehört und gelesen. Sie erscheinen manchmal etwas unglaubwürdig, und mitunter sind die Protagonisten auch aus außergewöhnlichem Holz geschnitzt. Aber etwas daran muss ja doch wahr sein, denn ich kenne selbst Menschen, die zumindest zeitweise sehr intensiv Bikram-Yoga praktiziert haben und von einer einzigartigen und verändernden Erfahrung sprechen. Darum wollte ich schon lange ausprobieren , was geschieht, wenn ich jeden oder fast jeden Tag zum Hot Yoga gehe. Allerdings waren bisher die Hürden sehr viel größer als die Neugier: Irgendetwas tat immer zu weh und wurde durch mehr Yoga nicht besser. Anders jedoch im vergangenen Dezember.
Ich kam ziemlich fit von meiner herbstlichen Radreise Rom-Neapel-Sorrento zurück, eine vorher anhängige Malaise hatte sich am tyrrhenischen Meer in Luft aufgelöst, und Bikram-Yoga Berlin-Mitte lud zu seiner ersten Yoga-Challenge: 24 mal Yoga im Adventsmonat Dezember. Nach etwas Überredung (danke, Steffi!) nahm ich die Herausforderung an – und es war nicht immer, aber doch erstaunlich einfach.
Und einfach erstaunlich. Ich kam zum Teil aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und staune im Grunde immer noch. Zuerst darüber, dass mir das Experiment überhaupt möglich war und es am Ende gelungen ist. Ich bin in den letzten 12 Tagen des Jahres 2012 zwölfmal beim Yoga gewesen (für Faktenprüfer: einmal davon in Friedrichshain) und hab auch am 1. und 2. Januar brav geschwitzt. Ich habe entdeckt, dass vielleicht doch kleine Fortschritte möglich sind. Und ich muss bestätigen, dass die Erfahrung ungeheuer intensiv und lohnenswert ist. Es war schlicht das Abenteuerlichste, Großartigste und Bahnbrechendste, auf das ich mich bisher eingelassen habe. Reisen in ferne Länder haben immer ein Ende, diese Yogareise geht weiter, Kurs für Kurs, Tag um Tag, immer noch.
Erwartet hatte ich, dass ich irgendwann total schwach in mir zusammenfallen würde oder meine notorischen Knie wild protestieren würden. Aber diese Befürchtungen traten nicht ein. Ja, natürlich wurde mein Körper auch schwach, das lässt sich bei diesem anstrengenden Yoga kaum vermeiden. In manchen Kursen war es mir schwer zu folgen, ich spürte einen gewissen Überdruss. Dennoch setzte ich nie länger als einen Tag aus. Auch meldeten sich diverse Körperteile mit Unmutsbezeugungen zu Wort, am nachhaltigsten die rechte Schulter. Darauf habe ich Rücksicht genommen, ich bin dann so vorsichtig gewesen, wie ich konnte. Aufgeben musste ich deswegen nicht, ich habe solche Einschränkungen wie auch meine Schwäche wohlwollend zu akzeptieren versucht. Und wundersamerweise gelangen mir mitunter gerade dann neue Dinge, wenn ich mich eigentlich eher schwach fühlte. Woher kam und kommt diese Kraft?
Das erste und wichtigste Geheimnis ist wohl: Gelassenheit. Yoga, auch sportliches, ist kein Sport, es geht nicht darum, irgend etwas zu erreichen oder Erwartungen - eigene wie fremde - zu erfüllen. Es geht, was geht, und wenn es heute nur ein ganz klein wenig ist, dann ist dieses Wenige gut und gut genug. Morgen ist auch noch ein Yogatag. Und vielleicht auch übermorgen.
Also keine Zensuren, keine Bewertung, kein gut oder schlecht, möglichst keine Angst vor bestimmten Übungen – das sagt sich leichter, als es ist. Erwarte nichts, sei gut zu Dir, nimm an, was heute möglich ist, als Geschenk. Darin besteht die große, vielleicht die größte Herausforderung. Durch eine so sehr häufige Praxis lässt sie sich leichter meistern, die Gelassenheit wächst fast von selbst, gerade auch durch die nicht leugbare Schwäche. Yoga wird fast wie Zähneputzen (von wem stammt der Vergleich?).
Achtsamkeit und Respekt gegenüber dem eigenen Körper sind wichtig. Ich muss nichts erzwingen. Ein Wollen und auch etwas Ehrgeiz sind immer da, aber wenn die Schulter weh tut, muss ich die Arme nicht in der ersten Atemübung weiter nach oben treiben, als schmerzfrei möglich ist. Egal, was die energische Cheerleaderin vorn in das Heizlüftergeräusch ruft. Solches Anfeuern und Antreiben zu ignorieren fällt mir extrem schwer, aber nur so lässt sich mit Unpässlichkeiten positiv umgehen. Denn komische, auch deutlich unangenehme Dinge würde ich spüren, z. B. durch alte Verletzungen. In dieser Hinsicht war ich vorgewarnt (danke, Nelli!).
Zu guter Letzt: Konzentration auf die Hauptsache. Ich nehme an einer Yoga-Challenge teil, da muss ich nicht gleichzeitig noch mit allen Radlern der Stadt um die Wette fahren wollen. Das geht nämlich für mich zumindest nicht. Ich spüre nach den Yogakursen, dass ich nur schwach in die Pedale treten kann. Also gelten auch im Alltag: Gelassenheit, Annehmen, Fokus. Oder ganz praktisch: Überholen lassen. (Ha, und trotzdem hab ich im Wonnemonat Dezember mein Handy vor Ärger auf den Boden geworfen – da klingelt nun nichts mehr...)
Und so stehe ich nun am Ende der Matte, hebe beide Arme nach oben, presse mit Mittelfingern, Ringfingern und kleinen Fingern beide Hände aneinander (Zeigefinger bleibt gestreckt), mache mit dem rechten Bein einen großen Schritt nach vorn, senke den Oberkörper mit den gestreckten Armen und fest aneinandergpressten Händen (danke, Linda!) und strecke ihn kraftvoll nach vorn, ohne dabei in den Spiegel zu schauen (danke, Dorina!), und hebe möglichst gleichzeitig das linke Bein, strecke es nach hinten: die Balancierstangenhaltung – Tuladandasana. Sie gelingt mir nun viel öfter als früher, wird nahezu selbstverständlich, sodass ich mich schon frage, was daran eigentlich so schwer ist. Aber nein, es ist schwer: Ich musste zuerst möglichst genau wissen, was ich zu tun tun habe, dann muss mein Körper das verstehen und koordiniert umsetzen lernen, und die nötige Kraft in Beinen und Oberkörper müssen er und ich jedes Mal aufs Neue „finden“. Balance braucht's auch noch dafür. Und in Kopf und Geist: Fokus, Achtsamkeit, Respekt und Gelassenheit.
Das ein wenig besser zu lernen und zu erleben, wie aus gefühlter und wahrer Schwäche Stärke erwächst – darin lag der Charme und das wahrhaft Erstaunliche bei den 26 Mal Yoga im Monat Dezember.